LegalTech: Fluch oder Segen für Anwält:innen?
Viele Anwältinnen und Anwälte empfinden LegalTech als Bedrohung. Andere sehen darin ihre Zukunft. Für manche ist es noch eine Blackbox. Doch was steckt genau dahinter? Welche Chancen, welche Risiken sind damit verbunden? Höchste Zeit genauer hinzusehen, denn eines ist schon jetzt sicher: LegalTech ist kein vorübergehender Trend.
LegalTech auf dem Vormarsch
Ob Versicherung, Rechtsdienstleistung oder Kreditfinanzierung – längst haben Technologieanbieter die großen Potenziale entdeckt, die in traditionellen Branchen für sie schlummern. Sie drängen in den Markt mit Geschäftsmodellen, die meist auf diesem einen Erfolgsrezept basieren: konsequenter Einsatz von Technologie, um für die Zielgruppen immer schneller, günstiger und qualifizierter Dienstleistungen zu erbringen. Flankiert werden die Angebote häufig durch äußerst attraktive Konditionen, die die berufsrechtlich reglementierte Konkurrenz nicht offerieren kann bzw. darf, so etwa eine Reduzierung des Kostenrisikos durch Prozessfinanzierung und Erfolgshonorare.
Lernen von innovativen Branchen
Dass Tech-Unternehmen keinesfalls unterschätzt werden sollten, zeigt ein Blick in die Finanz- und Versicherungsbranche Chinas, des Landes, das weltweit führend im Bereich Künstlicher Intelligenz und Technologie ist. Die dort ansässige Ant Group, ein Tochterunternehmen des riesigen Alibaba-Konzerns, ist schon seit mehreren Jahren das wertvollste FinTech weltweit, um ein Vielfaches wertvoller als die Allianz oder die Deutsche Bank. Allein von Januar bis Juni 2020 machte das Unternehmen etwa 8,9 Milliarden Euro Umsatz und erwirtschaftete einen Gewinn von circa 2,6 Milliarden Euro. Mittlerweile expandiert es auch nach Europa. Zum Konzern gehört unter anderem Ant Insurance Services, eine Versicherungsgesellschaft, die ihren vorerst nur chinesischen Kund:innen dank Künstlicher Intelligenz eine hocheffiziente Schadensabwicklung bietet: 2 Minuten für die Schadensmeldung, 1 Sekunde für die Prüfung und 2 Stunden, bis das Geld auf dem Konto des Kunden ist.
LegalTech: Schreckgespenst oder doch ganz harmlos?
Doch nicht nur FinTech-Unternehmen sind eifrig dabei, an ihrer Expansion zu arbeiten und immer innovativere IT-Lösungen zu entwickeln. Auch im LegalTech-Markt tut sich Einiges. In den USA boomt seit einem guten Jahrzehnt das Business mit Technologie, die Rechtssuchenden schnelle, preiswerte und effektive Hilfe auch ohne Einschaltung eines Anwalts verspricht.
In Deutschland wächst dieses Geschäft ebenfalls, wenn auch langsamer als jenseits des großen Teichs. Immer mehr Dienstleister und Portale hierzulande bieten Privatpersonen wie auch Unternehmen technologiegestützte juristische Hilfe an. Was viele Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit Sorge erfüllt: Einige dieser Angebote scheinen darauf abzuzielen, große Stücke vom Kuchen des Anwaltsmarktes abzuschneiden, wie zum Beispiel wenigermiete.de oder recht-ohne-risiko.de. Sind die rechtsbezogenen Technologien also ein Fluch, der das Geschäftsmodell „Anwaltskanzlei“ aushöhlt und früher oder später gar vollständig ablöst? Sehen wir uns dazu zunächst einmal genauer an, was LegalTech genau ist.
LegalTech: ein Begriff – viele Bedeutungen
Die Digitalisierung hat längst Einzug gehalten in alle Bereiche rund um die Rechtsberatung. Dementsprechend ist das Spektrum von Legal Technology (kurz: LegalTech) riesig: Es reicht von der einfachen Datenbank zur Recherche von Urteilen über komplexe Kanzleimanagement-Software und Online-Dienste für rechtssuchende Verbraucher bis hin zu Systemen, die Verträge managen und analysieren oder gar Streitschlichtungsvorschläge unterbreiten.
Die meisten Juristen und Juristinnen verbinden mit LegalTech allerdings vor allem eines: digitalisierte Rechtsberatung, die den Anwalt, die Anwältin obsolet macht oder zumindest teilweise ersetzt. Daher ist es auch kein Wunder, dass der Begriff im Anwaltsmarkt eher negative Assoziationen weckt.
Experten jedoch differenzieren die Technologien in unterschiedliche Generationen. Schaut man sich diese näher an, verliert das Schlagwort LegalTech viel Bedrohungspotenzial:
- LegalTech 1.0: Hierunter fallen im Wesentlichen Softwarelösungen oder auch Online-Dienste, die im Rechtswesen Tätige in ihrer Arbeit unterstützen, sie keinesfalls aber ersetzen, so z. B. Datenbanksysteme zur Recherche, Kanzleisoftware für die Buchhaltung, Honorarabrechnung, Aktenverwaltung oder auch Webinare zur Fortbildung oder zur Durchführung von Webkonferenzen mit Mandanten.
- LegalTech 2.0: Dazu zählen Software-Produkte und Online-Portale, die einzelne rechtsbezogene Dienstleistungen anstelle von Juristen und Juristinnen erbringen – meist effektiver, manchmal sogar besser, weil weniger fehleranfällig und objektiver, immer jedoch günstiger für die Klienten. Anwälte, Anwältinnen und deren Mitarbeitende werden bei solchen Lösungen zwar immer noch flankierend oder zumindest als Rückfallposition benötigt, jedoch in weit geringerem Maße – zumindest bei Standardfällen, die von den Anwendungen weitgehend autark erledigt werden. Lösungen der Generation 2.0 gibt es mittlerweile für viele juristische Teilschritte. Weitgehend automatisiert erstellen entsprechende Systeme zum Beispiel Verträge oder Klageschriften. Sie wickeln Inkasso-Fälle ab, setzen Passagier-Rechte gegenüber Fluggesellschaften durch oder fungieren sogar als Online-Streitschlichter.
- LegalTech 3.0: Digitale Lösungen dieser Generation muten im Rechtsmarkt derzeit noch wie Science Fiction an, und das nicht nur in Deutschland. Hier geht es darum, unter anderem mithilfe von selbstlernenden Algorithmen (Stichwort: Künstliche Intelligenz) die Rechtsberatung vom Menschen auf Systeme zu verlagern. Was im Geschäft mit der Juristerei derzeit und vermutlich auch in den nächsten Jahrzehnten noch Utopie oder – abhängig vom Mindset – Dystopie ist, ist in anderen Wirtschaftszweigen bereits gelebte Wirklichkeit (siehe oben).
Tipp
Was tut sich weltweit aktuell im Bereich LegalTech? Einblicke gibt die Legal-Technology Datenbank der Stanford-University. Dort sind auch die neuesten Entwicklungen aufgelistet.
Im Zweifel für LegalTech: Rechtsprechung im Licht des RDG
LegalTech schafft es immer wieder in die Schlagzeilen der juristischen Medien. Anlass dafür sind überwiegend gerichtliche Verfahren, die gegen LegalTech-Lösungen der 2.0-Generation angestrengt werden. Meist geht es, wenn auch mittelbar, um Verstöße gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Oft ohne Erfolg. Im Gegenteil, Verfahren wie diese haben inzwischen zugunsten der LegalTech-Anbieter zu einer faktischen Liberalisierung des Rechtsdienstleistungsmarktes in Deutschland geführt.
Punkt, Satz und Sieg für LegalTech: die WenigerMiete-Urteile aus Karlsruhe
So hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 27. November 2019 (VIII ZR 285/18) die Leistungen des Online-Portals wenigermiete.de für RDG-konform erklärt. Dieser LegalTech-Anbieter macht als Inkassodienstleister mietrechtliche Ansprüche von Verbrauchern und Verbraucherinnen geltend. Ohne finanzielles Risiko für diese, da die Vergütung nur im Erfolgsfall fällig wird und auch die Verfahrenskosten vom Anbieter in der Regel vorfinanziert werden. Das Urteil aus Karlsruhe sorgte für Unmut bei Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen. Verständlicherweise, denn diese durften bislang ihrer Mandantschaft vergleichbar attraktive Angebote gar nicht erst unterbreiten. Im Gegensatz zu den Online-Portalen war ihnen berufsrechtlich weder die Vereinbarung eines entsprechenden Erfolgshonorars noch die Vorfinanzierung von Rechtsstreitigkeiten erlaubt.
Das RDG sei stets aus der Perspektive der Deregulierung und Liberalisierung der außergerichtlichen Rechtsdienstleistungen zu sehen, die die Entwicklung neuer Berufsbilder erlaubte, konstatierten die BGH-Richter. Seine liberale Sicht hat der BGH in einer neueren Entscheidung 2020 bestätigt (Urteil vom 08.04.2020 – VIII ZR 130/19). Auch hier ging es wieder um das LegalTech-Portal wenigermiete.de. Eine Mieterin hatte die Portalbetreiber mit der Durchsetzung ihrer Ansprüche aus der Mietpreisbremse beauftragt. Hier werteten die Karlsruher Richter die Tätigkeit ebenfalls nicht als Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz: Wer als Inkassodienstleister nach § 10 RDG registriert ist, darf seine Kundschaft im Rahmen des außergerichtlichen Forderungseinzugs rechtlich beraten, auch dann, wenn noch unklar ist, ob die Ansprüche wirklich bestehen.
Der umstrittene Textgenerator: Erlaubnisfreie technische Dienstleistung?
Wie schwierig es für Gerichte ist, neue LegalTech-Angebote einzuordnen, zeigt der Rechtsstreit um den softwarebasierten Textgenerator eines Fachverlags. Die Anwendung setzt für Verbraucher orientiert an einem Frage-und-Antwort-System Verträge und andere rechtlich relevante Dokumente aus Textbausteinen auf. Die Anwaltskammer Hamburg hatte dagegen geklagt, weil aus ihrer Sicht der Generator eine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung nach § 2 RDG darstellt. Dieser Meinung schloss sich das Landgericht Köln an (LG Köln, Urteil vom 08.10.2019, Az. 33 O 35/19). Nicht so die Berufungsinstanz. Sie gab dem Verlag recht: Das Programm führt, so die Richterinnen des OLG Köln, für die Verbraucher erkennbar, keine rechtliche Beratung im Einzelfall durch, sondern kombiniert abhängig von der Auswahl des Anwenders nur Textbausteine miteinander. Das sei keine Rechtsdienstleistung im Sinne von § 2 RDG, sondern eine erlaubnisfreie technische Dienstleistung. Die letztendliche Entscheidung bleibt jedoch der Revisionsinstanz überlassen. Ob der BGH im angesetzten Verkündungstermin am 26.08.2021 bei seiner liberalen Linie bleibt – hier entscheidet der für Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz zuständige Senat –, wird nicht nur von LegalTech-Anbietern mit Spannung erwartet.
Ab Oktober 2021: Erfolgshonorar auch für Anwälte und Anwältinnen
Auch der Gesetzgeber hat die Schieflage zwischen den LegalTech-Inkassodiensten und der Anwaltschaft erkannt und zumindest teilweise austariert: mit dem Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt, kurz LegalTech-Gesetz. Anwältinnen und Anwälte dürfen nun das, was für Inkassodienstleister schon längst zulässig ist: ihren Klienten ein attraktives Angebot unterbreiten, wenn es um Inkasso-Mandate geht. Ab Anfang Oktober 2021 können sie – zumindest bei Geldforderungen bis 2.000 Euro – ihr Honorar davon abhängig machen, dass die Einziehung Erfolg hat. Dieses Erfolgshonorar ist künftig in § 49b Abs. 2 Satz 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung i. V. m. § 4a Rechtsanwaltsvergütungsgesetz n.F. geregelt.
Erfolgshonorare ja, Prozessvorfinanzierung nein
Starker Gegenwind gegen die Liberalisierung des Berufsrechts kam – für viele externe Beobachter unerwartet – vor allem von der Bundesrechtsanwaltskammer. Deren Argument: Wenn der Anwalt, die Anwältin ein wirtschaftliches Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens habe, verkomme seine bzw. ihre Dienstleistung zur Ware. Das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant werde damit erheblich belastet. Eine weitere im Gesetzesentwurf angedachte Öffnung – die Prozessfinanzierung seitens der Anwälte und Anwältinnen – wurde aufgrund dieser Bedenken fallengelassen.
Auf weitaus weniger Kritik seitens der Berufsverbände stieß die zweite Säule des Gesetzesentwurfs: die schärfere Regulierung zulasten der LegalTech-Anbieter. Ab dem Herbst 2021 müssen sich Inkassodienstleister aus Verbraucherschutzgründen einem intensiveren Registrierungsverfahren unterziehen. Zudem werden ihre Informations- und Darlegungspflichten erweitert. Außerdem wird der Kreis zulässiger Inkasso-Dienstleistungen eingeschränkt. So werden Bereiche ausgeklammert, die eine besondere Verschwiegenheit voraussetzen oder mit komplexen rechtlichen Erwägungen verknüpft sind. Verbraucherschutzverbänden geht der Schutz jedoch noch nicht weit genug. Experten prognostizieren daher jetzt schon rasche Nachbesserungen im neuen LegalTech-Gesetz.
Die Zukunft: Gegen oder mit LegalTech?
So viel steht fest: Die Digitalisierung lässt sich nicht aufhalten, weder mit Gerichtsprozessen noch durch Reglementierung. Das zeigt nicht nur die rege Diskussion um das neue Legal-Tech-Gesetz, sondern auch die rasante Entwicklung von Online-Diensten oder Portalen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Trotz erheblicher rechtlicher Bedenken, wie z. B. im Hinblick auf die DS-GVO, florieren sie und erlangen immer mehr Bedeutung im Geschäfts- wie auch im Privatleben.
Die Gesetzgebung hinkt langsam und schwerfällig hinterher. Die Augen zu schließen und abzuwarten, dass die rasante Reise in eine digitale Zukunft irgendwann an Tempo verliert – sei es durch Verbote, sei es durch eine Trendwende –, ist keine gute Strategie. Zu groß ist die Gefahr abgehängt zu werden. Das zeigt auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Nach zähen Anfängen und einer Menge Skepsis nutzt mittlerweile jede Kanzlei Software zur Optimierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen – und will sie nicht mehr missen. Auch die Gerichte werden immer digitaler, die Mandant:innen sowieso. LegalTech 1.0 ist also schon längst das neue Normal. Und auch die Generation 2.0 wird es eher früher als später sein.
Besser ist es also, die Potenziale der Digitalisierung als Chance für die eigene Kanzlei zu begreifen. So einige Big Player im Anwaltsmarkt investierten in den letzten Jahren viel Geld in eigene innovative Tech-Projekte. Doch auch für kleinere Kanzleien lohnt die Beschäftigung mit den neuen IT-Perspektiven. Denn deren Integration muss nicht zwangsläufig immer kostspielig und ressourcenbindend sein. Wie so oft kommt es auf die richtige Herangehensweise an. Sie beginnt mit einer Analyse des Status quo, um darauf aufbauend digitalen Optimierungsbedarf zu erkennen und die eigene Strategie daran anzupassen.
Fragenkatalog für Ihre 360-Grad-Analyse
Perspektive: Mandant:innen
- Wofür schätzen uns unsere Mandant:innen? Worin liegen aus deren Sicht unsere Stärken? Wofür empfehlen sie uns weiter?
- Welche Wünsche und Bedarfe können wir noch nicht oder nicht ausreichend bedienen?
- Wo gibt es Kritik? Wo hakt es regelmäßig im Kontakt mit Mandant:innen?
- Passt das, was wir anbieten, zu dem, was die Mandant:innen wollen?
- Welche Mandantschaft hätten wir gerne? Was müssten wir anders machen, um sie von uns zu überzeugen oder gar zu begeistern?
Kanzleiinterne Perspektive
- Welche standardisierbaren Arbeitsprozesse laufen gut, welche könnten effizienter erledigt werden?
- Wo hakt es noch in den Abläufen? Wo kommt es regelmäßig zu Reibungspunkten, Missverständnissen, Verzögerungen? Wo unterlaufen uns immer wieder Fehler?
- Welche Kritikpunkte und Wünsche gibt es seitens der Mitarbeiter:innen?
- Welche Bewerber:innen sind für uns interessant und was müssten wir tun, um sie von uns zu überzeugen oder gar zu begeistern?
Perspektive: Markt und Umfeld
- Welche digitalen Mehrwerte bieten Kanzleien mit vergleichbarer Ausrichtung?
- Welche IT-Entwicklungen zeichnen sich bereits jetzt für bestimmte Rechtsgebiete ab?
- Welche LegalTech-Angebote könnten zu unserer Ausrichtung passen?
Steht der digitale Optimierungsbedarf fest, eröffnen sich viele Wege ihn zu befriedigen. Ob Kooperation mit LegalTech-Anbietern, neues Modul für die bereits installierte Kanzleisoftware, Lizenzerwerb für eine innovative Lösung oder Zusammenschluss mit mehreren Kanzleien zur Entwicklung eigener Anwendungen – das Spektrum möglicher Varianten ist weit. Man muss nur offen dafür sein.
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