Kanzleiorganisation 4.0 – Ist die Assistenz noch zeitgemäß?
Der Zusatz 4.0 steht für Digitalisierung. Mit dieser Botschaft zaubert die aktuelle Kampagne „Wirtschaftswunder 4.0“ sehr authentisch (soweit der Anspruch der Telekom-Macher) den digitalen Fortschritt der deutschen Unternehmen zwischen Aachen und Bad Waldsee auf den abendlichen Bildschirm. Das ist gut, denn was sich hinter dieser 4.0 verbirgt, ist vielen Vertretern des deutschen Mittelstands gar nicht bewusst, wie die WiWo-Wirtschaftswoche kürzlich berichtete.1
4.0 das ist die 4. Stufe der Industriellen Revolution. Spätestens jetzt lehnt sich der Anwalt gelassen zurück und denkt:
„Das betrifft mich nicht. In meiner Kanzlei gibt es keine Industrie, keine produzierenden Maschinen und schon gar keine Revolution.“
Die Digitalisierung macht vor keiner Kanzleitür halt
Zugegeben, das mit der durchgängigen Digitalisierung, der grenzenlosen Vernetzung, der Kommunikation auf allen Kanälen und der selbstgesteuerten Optimierung ist nicht nur für Kanzleien pure Zukunftsmusik. Aber selbst wenn das für Sie vielleicht ohnehin nach digitaler Disharmonie klingt, die Zukunft macht vor keiner (Kanzlei-)Tür halt, und deshalb ist es besser, sie rechtzeitig hinein zu bitten. Aber Vorsicht, die Digitalisierung greift in die Struktur Ihrer Organisation und zwingt Sie zur Veränderung. Ob Sie selbst schon bei Kanzleiorganisation 4.0 angekommen sind, oder eher so bei 2 ½ pendeln, ist eigentlich gar nicht wichtig, solange Ihre Kanzleiorganisation läuft.
Ach, bei Ihnen läuft vor allem Ihre ReNo? Und zwar ganz konkret zwischen Schreibtisch, Empfang, Faxgerät und Poststelle und manchmal, aber nur ganz selten, auch zu Gericht. Da haben Sie es gut, oder wie es neudeutsch heißt: läuft bei Dir.2 Man muss sich ja sprachlich an diese Generation Y anpassen, denn es (oder sie) soll ja auch in Zukunft laufen. Aber vielleicht braucht man in der Kanzleiorganisation 4.0 gar keine ReNo mehr? Sind ja eh so schwer zu finden, diese Mädchen …
ReNoPat-Fachangestellte gehören zu den Kammerberufen
Ist die Assistenz noch zeitgemäß? Die jungen Damen und Herren Anwälte haben, ebenso wie die ReNoPat-Fachangestellten, zehn Finger und können, auch dank der modernen Computertechnik, heutzutage selbst tippen. So hat es jedenfalls 2013 die PROGNOS AG im Auftrag des DAV in der Studie „Der Rechtsdienstleistungsmarkt 2030“ prognostiziert.
„Einerseits werden Büroarbeiten, die bislang von Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten durchgeführt wurden, automatisiert (z.B. Spracherkennungssoftware), andererseits wandelt sich das Selbstverständnis bei jüngeren Anwälten, die ihre Schriftsätze selbst eintippen und Personal nicht finanzieren können oder wollen.“3
Abgesehen davon, dass diese Rechnung betriebswirtschaftlich keinen Sinn macht, weil der Stundensatz des Anwalts wohl um ein vielfaches höher liegt, als der Stundenlohn seiner Assistentin, wird die ReNo hier mal wieder zur Schreibkraft degradiert. Dass zu dem Dreigestirn der juristischen Assistenz auch noch die Patentanwaltsfachangestellte (ReNoPat) zählt, fällt in diesem Zusammenhang gar nicht erst auf. Aber wer denkt, dass in Anwaltsbüros, Patentanwaltskanzleien und Notariaten nur getippt wird, der hat wohl noch nichts von zentralen Registern, Urkundenrollen, Markenanmeldungen und englischsprachigen Vertragsentwürfen gehört, auch nichts von der Fristsetzung. Immerhin gehören die ReNoPat- Fachangestellten zu den Kammerberufen und das nicht ohne Grund. Wer sich schon einmal um die Wiedereinsetzung einer Frist bemüht hat, wird auf seine ausgebildete, langjährig erfahrene, stets zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte nicht verzichten wollen.
Umso interessanter, dass man sich in der Studie zu der Aussage hinreißen lässt: „Die Bachelor-Absolventen ersetzen Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte“. Das ist in zweifacher Hinsicht kühn gedacht. Zum einen erlernen die Bachelor-Absolventen selbst in den wirtschaftsjuristischen Studiengängen nichts von dem, was eine ReNoPat in der Ausbildung vermittelt bekommt, bspw. Rechnungslegung nach Gesetz, Zwangsvollstreckung und Mahnverfahren und eben das Fristenmanagement, zum anderen werden sich Bachelor-Absolventen nicht als „Tippse“ in der Anwaltskanzlei bewerben. Insbesondere Wirtschaftjuristen haben in der Zwischenzeit ganz andere Optionen, und machen zunächst erst mal ihren Master. Wenn aber nun der Anwalt nicht selbst tippt und der Bachelor nicht tippen will, wer tut es dann?
Wer tut zukünftig das, was zur Kanzleiorganisation 4.0 gehört?
Viel spannender ist allerdings die Frage, wer tut all das, was außer dem Tippen zur Kanzleiorganisation 4.0 zählt? Der Anwalt? Wohl kaum. Die größten Bedenken der Wirtschaft in Bezug auf die Digitalisierung liegen im rechtlichen Bereich.4 Zu den 50 % Bedenkenträgern werden sicher auch die Anwälte zählen, denn sie kennen die Risiken und Schwachstellen und alles, was noch nicht reguliert und geregelt ist ja am besten.
Stellen wir die Frage anders: Wer hat sich denn bisher um die Einführung neuer Technik und Software in der Kanzlei bemüht? Die Antwort ist klar: die, die sie auch benutzen. Wenn die Spracherkennungssoftware in der Kanzlei funktioniert, dann ist das wohl der Assistenz zu verdanken. Anstatt die Bandaufnahme mit dem Fuß zu steuern, hat sie ganz nebenbei gelernt, die Blackberry-Dateien zu korrigieren. Sie sagt dem Anwalt, wann Windows XP nun endgültig ausläuft, oder Windows 8 noch mit Schwachstellen kämpft. Die Nummer vom First-Level-Support kennt sie auswendig und wenn neue Kanzleisoftware eingeführt wird, dann bucht sie sich, meist auf eigene Kosten, einen Weiterbildungskurs. Dort läuft sie dann nach Feierabend hin. Am Samstag besucht sie einen Englischkurs, schließlich will sie ja teilhaben an der Internationalisierung des deutschen Rechtsmarktes. Aber sonntags, da schaut sie online in den „Stellenmarkt für die juristische Assistenz“. Irgendwas muss doch noch gehen oder kommen in ihrem Leben, denn irgendwie läuft´s nicht bei ihr. Aber der Markt ist gut für die klassische ReNo – man sucht sie in Rechtsabteilungen, in Vorstandsetagen, in der Immobilienbranche, in der Verwaltung und in – nein, in eine Kanzlei will sie eigentlich nicht mehr.
Sie rührt in ihrem Sonntagskaffee und träumt von einem Job mit fachlicher und sprachlicher Weiterbildung, Anerkennung, Verantwortung, Vertrauen…
Marion Proft
Marion Proft sieht sich mit ihrem Unternehmen LegalProfession als Begleiterin im Univer§um der juristischen Berufe. Sie ist zertifizierte Vermittlerin zwischen Ausbildung, Studium und Beruf und arbeitet als Persönlichkeitstrainerin und Bewerbungscoach.